11. Juli 2019, 21:53 Uhr

Eine schier unendliche Geschichte

In Gießen hat die bundesweit kontrovers und sehr emotional behandelte Geschichte um die Strafbarkeit von Ärzten wegen verbotener Werbung für Schwangerschaftsabbrüche begonnen. Hier wurde Kristina Hänel vom Amtsgericht Ende 2017 erstmals zu einer Geldstrafe verurteilt. Sie habe mit Angaben auf ihrer Homepage zur Bereitschaft, rechtlich zugelassene Abtreibungen durchzuführen, und Erläuterungen dazu verbotene Werbung im Sinne des § 219a Strafgesetzbuch betrieben.
11. Juli 2019, 21:53 Uhr
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Aus der Redaktion
Macht bundesweit Schlagzeilen: Kristina Hänel (rechts), Fachärztin für Allgemeinmedizin - hier zusammen mit Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD, Mitte) im Februar in der Talkshow von Anne Will (links) - wurde wegen unerlaubter Werbung für Schwangerschaftsabbrüche verurteilt und löste damit eine Diskussion um den Paragrafen 219a aus. (Foto: NDR/Wolfgang Borrs)

Wiederum in Gießen hielt das Landgericht ein Jahr später in der Berufungsentscheidung an der Verurteilung fest. Die daraufhin bundesweit geführte rechtspolitische Diskussion hatte zu einer äußerst umstrittenen Neufassung des § 219a geführt; dem Bundesverfassungsgericht obliegt es, in einem von Oppositionsfraktionen des Bundestags angestrengten Normenkontrollverfahren über dessen Verfassungsmäßigkeit zu befinden. Hier in Gießen muss nun noch einmal das Landgericht entscheiden, ob das Verhalten auch nach dem inzwischen enger gefassten § 219a strafbar ist. Aufgrund von Hänels Revision hatte jüngst nämlich das Frankfurter Oberlandesgericht die Sache zurückverwiesen an eine andere Strafkammer des hiesigen Landgerichts.

Was am Ende irgendwann herauskommt - Festhalten an der Norm, einengende Auslegung, Neufassung des § 219a - ist schwer vorauszusagen. Jedenfalls wird Hänel wohl nicht ihr hartnäckig verfolgtes Ziel erreichen: nach rechtskräftiger Bestrafung mit einer Grundrechtsbeschwerde das Verfassungsgericht zu veranlassen, das strafrechtliche Werbeverbot gänzlich zu beseitigen. Das wird weder zeitlich noch inhaltlich möglich sein.

Zeitlich: Entweder wird das Landgericht Gießen Hänel erneut, aber »milder« verurteilen; denn der Kern ihrer Bestrafung - öffentliches Angebot für Schwangere - ist ja nicht mehr strafbar; allenfalls ist es noch die Erläuterung dazu auf der Homepage. Dagegen müsste die Verurteilte erneut Revision einlegen. Erst nach einer Verwerfung dieser zweiten Revision wäre der Weg zum Verfassungsgericht frei.

Doch wird bis dahin - es mag über ein Jahr dauern - längst in Karlsruhe über § 219a entschieden worden sein. Oder das Landgericht setzt seine eigene bis zu der in Karlsruhe im Normenkontrollverfahren anstehenden Entscheidung aus. Dritte Möglichkeit wäre, dass die Landgerichtskammer »klug und weise« von sich aus das Verfassungsgericht anruft, damit dieses über die Verfassungsmäßigkeit befindet. Die Strafkammer müsste in diesem Fall selbst verfassungsrechtliche Bedenken gegen den neuen § 219a darlegen.

Inhaltlich: Dem höchsten Gericht ist es hingegen verwehrt, generell die Strafbarkeit jeglicher Werbung für Schwangerschaftsabbrüche als verfassungswidrig zu erklären; das würde in die politische Beurteilungs- und Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers eingreifen. Es würde zudem einen mühsam in Jahrzehnten entstandenen Kompromiss zwischen Gesetzgeber und Verfassungsgericht zum Schutzkonzept für ungeborenes Leben und Belange Schwangerer ins Wanken bringen.

Unverzichtbare Elemente in dem Schutzkonzept sind nämlich: ein grundsätzliches Abtreibungsverbot, die Pflicht zu unabhängiger ärztlicher Beratung vor ausnahmsweise zulässigen Schwangerschaftsabbrüchen, das Bemühen, Abtreibungen nicht als normale medizinische Dienstleistungen erscheinen zu lassen, und nicht zuletzt ein Verbot, anpreisend für solche ärztlichen Dienste zu werben.

Verfassungsgericht anrufen

Wie steht es nun mit einer möglichen Verfassungswidrigkeit der in § 219a verbliebenen Strafbarkeit? Das Amtsgericht Berlin Tiergarten hat kürzlich zwei Frauenärztinnen nach dieser Strafbestimmung verurteilt; sie hatten auf ihrer Homepage die Bereitschaft zu rechtlich zulässigen Schwangerschaftsabbrüchen bekundet und erläutert. Verfassungsrechtliche Einwände hat das Amtsgericht nicht erkennen wollen. Solche Einwände liegen indes auf der Hand. Sie legen es nahe, das Verfassungsgericht anzurufen.

Auf Bedenken war bereits von mehreren Experten in den parlamentarischen Anhörungen hingewiesen worden. Da war die Rede von einer unvergleichlichen Absurdität, von grobem rechtsdogmatischem Unfug, von Handlungen, die ohne Unrechtsgehalt unter Strafe gestellt würden, von normativer Inkonsistenz. Die Mehrheit des Bundestags hat sich darüber hinweggesetzt. Zu den vornehmsten Aufgaben eines die neue Norm anwendenden Gerichts gehört es gerade dann, sich selbst ein Urteil über die Verfassungsmäßigkeit zu machen. Sind Zweifel nicht zu beseitigen, muss es das Verfassungsgericht anrufen. Strafbar bleiben soll nach der Neufassung des § 219a - außer ungebührlichem Werben allgemein - konkret die bloße Erläuterung angebotener Dienste für Schwangere auf der Homepage. Zulässig und erwünscht sind das Angebot der Leistung selbst und ein Link auf entsprechende Erläuterungen unabhängiger Informationsplattformen.

Man staunt: Sinnvolle Information auf einer unabhängigen Website zulässig, auf der ärztlichen Website aber eine Straftat? Das ist in der Tat missbräuchlicher Einsatz von Strafrecht. Es fehlt jegliche kriminalpolitisch und verfassungsrechtlich gebotene Fundierung solcher »Straftat«. Verstoßen wird gegen den verfassungsgerichtlich anerkannten Grundsatz, dass Strafe als schwerstes staatliches Eingriffsinstrument Ultima Ratio bleiben muss; das äußerste staatliche Unwerturteil ist nur zulässig, wenn weniger eingriffsintensive Zwangsmittel als unzureichend erscheinen; es ist lediglich angebracht, wenn es um sozialethisch erheblich zu missbilligendes Verhalten geht.

Man kann in der Gesetzgebung der Meinung gewesen sein, die berufsrechtlich ohnehin bestehenden Werbeverbote seien nicht hinreichend wirksam und müssten strafrechtlich ergänzt werden. Man kann außerdem befürchtet haben, erlaubte sachliche und verbotene »werbende« Informationen ließen sich schwer abgrenzen. Dann aber hätten sich folgende nicht strafrechtlichen Regelungsalternativen angeboten: Die Zulässigkeit ergänzender Sachinformation könnte man an eine vorangehende Prüfung durch die zuständige Ärztekammer binden. Notfalls ließe sich zusätzliche Sachinformation auf der ärztlichen Homepage verbieten und unter Androhung von Bußgeld als Ordnungswidrigkeit ahnden.

Strafandrohung ist jedoch unverhältnismäßig. Zudem entbehrt die »Straftat« - authentische ärztliche Sachinformation im Internet-Auftritt - jeglicher »Strafwürdigkeit«. Sie verfehlt überdies nötigen Bezug zum Rechtsgüterschutz: Das Ungeborene wird in keiner Weise besser geschützt dadurch, dass die zuvor ordnungsgemäß beratene Schwangere bei ihrem rechtmäßigen Bestreben, zum Abbruch bereite Ärzte zu finden, Erläuterungen auf der Homepage infrage kommender Ärzte findet.

Der unbestimmt und fragwürdig weit gefasste § 219a hat unerträgliche Rechtsunsicherheit für betroffene Ärztinnen und Ärzte sowie für Schwangere gebracht. Nach der ersten Gießener Verurteilung flackerten alte Grabenkämpfe wieder auf zwischen »Lebensschützern«, die Abtreibungen generell mit allen Mitteln verhindern, und Frauenrechtsaktivistinnen, die Entscheidungen für oder gegen ungeborenes Leben einzig den Schwangeren selbst überlassen wollen. Die Praxis der Gießener Ärztin wurde zeitweilig geradezu belagert. Die ohnehin zu geringe Zahl von Ärzten und Kliniken, welche für rechtlich zulässige oder sogar gebotene Eingriffe zur Verfügung stehen, soll sich wegen der Verunsicherung weiter verringert haben.

Fundamentalistisch eingestellte private Verfolger durchsuchten systematisch Internet-Seiten betroffener Ärzte. Religiöse oder politische Fanatiker scheuten sich nicht vor Diffamierungen solcher Ärzte und von Schwangeren, die keinen anderen Ausweg aus Konflikten finden als die Abtreibung. Da will ein angeblicher Student aus Kleve bis zu 70 Anzeigen allein gegen Frau Hänel und andere erstattet haben; »als Hobby« spähe er sie im Internet aus. Da bezeichnet der Betreiber einer Internetseite »Babycaust.de« Abtreibungen als »Mord« und »Steigerungsform des Holocaust«; KZs der Nazis stellt er heutigen Kliniken mit Abtreibungen zur Seite. Da warnte die AfD-Abgeordnete von Storch die SPD, eine »Babymörderfraktion« sein zu wollen, wenn sie sich nicht von Juso-Forderungen nach Abschaffung des § 218 StGB distanziere.

Es hätte besser laufen können, wenn etwa die Gießener Gerichte den § 219a StGB wie von uns vorgeschlagen enger ausgelegt oder sogleich das Verfassungsgericht angerufen hätten. Gesündigt hat vor allem der Gesetzgeber mit einem hektisch geschaffenen, unscharfen, überzogenen, rechtlich und beruflich Unsicherheit stiftenden Strafgesetz.



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