Das 19 000-Einwohner-Städtchen Sorgues im Westen des Départements Vaucluse ist nicht reich gesegnet mit jenen Lebensgefühl-Attributen, die man gemeinhin den Ortschaften in der sonnendurchfluteten Provence im Süden Frankreichs beimisst. Ein beschaulicher Ortskern zwar, viel Grün, einige Châteaus, ansonsten eher betriebsam und soziostrukturell sehr divers. Früher Agrar-, seit 1850 zunehmend auch Industriestandort mit dem sechstgrößten Einkaufszentrum des Landes an der Peripherie. Auchan und Ikea inklusive.
Aber Sorgues liegt mittendrin in diesem weithin bezaubernden und daher touristisch nachgefragten Landstrich. Oberhalb erstrecken sich die prominenten Weinlagen von Chateauneuf-du-Pape, westwärts münden Ouvèze und Sorgue in die Rhône. Im Süden grenzt man an die ehemalige Europa-Kulturhauptstadt Avignon, sind die Römer-Gründungen Arles und Nîmes nicht weit. Im Osten erstrecken sich bis Carpentras Gemüsefelder und Obsthaine, gehen über in die Hochprovence sowie ins Lubérontal, werden überragt vom »Giganten« der Region, dem Mont Ventoux.
Dieses Sorgues hat sich herausgeputzt, denn am 7. Juli will man in die Geschichte einer weltweit bedeutungsvollen Sportveranstaltung eintreten: Mitten im Stadtzentrum erfolgt der Start zur elften Etappe der Tour de France. Um die 20 000 Besucher werden dazu erwartet, ganz zu schweigen von den weltweit Millionen Zuschauern an den Bildschirmen.
Was hierzulande im Oberhessischen nicht weiter von Bedeutung sein müsste, hätten wir es nicht mit einer guten Bekannten zu tun, denn Sorgues ist seit 1972 mit Krofdorf-Gleiberg bzw. Wettenberg verschwistert, pflegt eine vitale »Jumelage«. Einer von diesbezüglich etlichen Anknüpfungspunkten: Zu den frühen Teilnehmern des Schüler- und Jugendaustauschs zählte ein gewisser Thierry Lagneau - und der ist seit 2010 Bürgermeister seiner Heimatgemeinde und als solcher »Hauptverdächtiger« in Sachen Tour-Akquise.
Dieses Amt allein hätte dem 58-Jährigen kaum den Zuschlag bringen können. Lagneau arbeitet auch als Vizepräsident des Départementrates, war als solcher stets Befürworter, als öffentliche Hand sehr konkret die Straßen hinauf zum Mont Ventoux für Freizeit- wie Profiradsportler in Schuss zu halten. Beharrlich blieb er am Ball. 2016 lud er, nach einer Ventoux-Etappe, fürs Vaucluse-Parlament zum abendlichen Empfang ans Château des Brantes nach Sorgues ein. Tour-Chef Christian Prudhomme war angetan. Im April 2020 bekam Sorgues eine Etappe des Radklassikers Paris-Nizza. Im Herbst folgte die Tour-Zusage für 2021. Jetzt steht er bevor, der Ritterschlag.
Wie wichtig ist das für Sorgues? Für das Selbstwertgefühl der Stadt und ihrer Einwohner, für ihre Seele, für die lokale Wertschöpfung? Lagneau sagte dieser Tage im Gespräch mit dieser Zeitung, es sei »einfach unglaublich schön, wenn man bedenkt, dass die Tour de France nach den Olympischen Spielen und der Fußball-WM das drittbedeutendste Sportereignis der Welt ist«. Nicht zu vergessen die wirtschaftlichen Aspekte. »Eine Rechnung sagt: Eine Tourstart-Stadt erhält für jeden investierten Euro zwischen 1,5 und zwei Euro zurück.« Man rechne mit bis zu 20 000 Zuschauern vor Ort - und Abermillionen an den TV-Bildschirmen. Logistisch muss die Stadt das Parken und den Verkehr von 1200 Pkw, 60 Lkw und über 20 Mannschaftsbussen bewältigen. Die gesamte Innenstadt wird für zwei Tage für den Individualverkehr gesperrt. »Gastgeber der Tour de France zu sein, das ist eine echte Chance für uns«, sagt Lagneau.
Die Tour ist seit über 100 Jahren ein national identitätsstiftendes Kulturelement und sportliches Großereignis in Frankreich gleichermaßen. Start- oder Zielort zu sein, gilt wie ein Sechser im Lotto. Ist das kostenlos? Der Bürgermeister von Sorgues beziffert den »Eintrittspreis« für den Tour-de-France-Startort-Status mit 85 000 Euro. »Wir erhalten einen Zuschuss von 35 000 Euro vom Département Vaucluse und 15 000 Euro von der Region Provence-Alpes-Côte d’Azur (PACA).«
Im zeitlichen Vorfeld des 7. Juli hat die Stadt etliche Initiativen gestartet, um die Bevölkerung einzubinden und vor allem zu motivieren. Lagneau hält die Tour für »ein Volksfest par excellence. Wir haben dafür gesorgt, dass unsere Bevölkerung eingestimmt ist.« Seit fast vier Monaten steht vor der Stadtverwaltung ein riesiges Terminal in Form eines Kilometersteins, in dem eine Digitaluhr die Tage bis zum Start herunterzählt. Die Tour ist Unterrichtsthema in den Schulen. Kinder und Bürgermeister verbuddelten sogar eine »Zeitkapsel«. Eine Freiluft-Ausstellung ist den Tour-Radsportlern aus dem Département Vaucluse früherer Jahre gewidmet. Es gibt das Wort »Sorgues« in XXL vor dem Chateau Saint Hubert und riesige Selfie-Foto-Liegestühle für Instagrammer. Sportfahrräder, gefertigt übrigens aus Zuckerrohr, schmücken mehrere Kreisverkehre. Das alte Rathaus ist in den Farben der vier Top-Tour-Trikots gekleidet: gelb, grün, weiß, rotgepunktet. Zudem veranstaltet die Stadt im Kulturzentrum »Camille Claudel« eine Ausstellung zu den traditionellen Bergetappen der Tour - und zu deren Helden. Nicht zu vergessen der örtliche Einzelhandel, das Lebensmittelhandwerk etwa: Die Schaufenster stehen voller Produkte mit Bezug auf die »Grande Boucle«-Etappe. Welche Route auf ihrem Weg von Sorgues nach Malaucène nehmen die über 180 Radsportasse nach dem Start am Boulevard Roger Ricca, der am Rondell neben dem Café de l’Industrie beginnt? Sie fahren zunächst nach Bédarrides, dann nach Entraigues und Pernes-les-Fontaines, L’Isle-sur-la-Sorgue und Fontaine-de-Vaucluse, bevor es Richtung Luberon geht. Nach Apt und Sault werden sie zum ersten Mal den Ventoux besteigen und nach Malaucène abfahren. Eine zweite Auffahrt ist von Bédoin vorgesehen, also von der Südseite her. Das Etappenziel ist in Malaucène.
Zur Einschätzung der Strecke schreibt die »ARD-Sportschau«-Redaktion, die Fahrer dürften nicht verkennen, dass vor der ersten Steigung am Ventoux mit dem Col de la Liguière oberhalb von Saint-Saturnin bereits ein sehr schwer zu erkletternder Berg liege. Es folge dann nur eine kleine Ruhepause, ehe der mythische Gigant zunächst über Sault, also über die »leichte« Seite, erklettert wird. Die zweite Passage über Bédoin sei so etwas wie der Klassiker. »Allzu euphorisch sollten die Fahrer danach nicht werden, sondern lieber die Konzentration hochhalten. Denn auch die rasante Abfahrt hinunter in den Zielort Malaucène hat es in sich.«
Letzteres - dieser »Abschweifer« darf sein - sah »Spiegel«-Autor Johannes Schweikle 2013 beim Selbstversuch einer »Eroberung des Erbarmungslosen« ganz anders: Die Abfahrt sei »20 km reiner Genuss« bis hinunter nach Malaucène. »Der Asphalt ist perfekt, die Kurven haben einen eleganten Radius. Ich spiele mit der Balance und träume durch die Landschaft. (…) Der Wind streicht warm um die Beine. Die Luft der Provence fühlt sich an wie ein weicher Kuss.« Wie auch immer: Wettenbergs Partnerstadt Sorgues freut sich auf einen großen Tag, der in ihren Mauern beginnt und dort letztlich auch endet - mit Thierry Lagneaus Abendempfang am Chateau Gigognan, mitten in den bukolisch sich hinziehenden Weinfeldern.