Roth spielt unausgesprochen auf die Fehler der grünen Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock an. Und er formuliert eine »nicht zu wagemutige« Einschätzung: Eine künftige Koalition mit SPD-Beteiligung, sogar eine mit einem Kanzler Olaf Scholz, sei keineswegs von vornherein ausgeschlossen. Die Direktwahlfrage in den Umfragen gibt Roth sogar recht: Scholz liegt vor Baerbock und Armin Laschet (CDU). Bei der Sonntagsfrage zu den Parteien kommt die SPD allerdings kaum vom Fleck: zwischen 16 und 19 Prozent.
Die höheren Sympathiewerte des SPD-Kanzlerkandidaten kann Roth aus nächster Anschauung erklären. Als EU-Minister sitzt er mit dem Vize-kanzler und Finanzminister am Regierungstisch. An diesem Morgen hat Scholz die Kabinettssitzung geleitet, weil die Kanzlerin im Urlaub weilt. Anschließend trifft sich Roth mit dieser Zeitung auf ein Gespräch in seinem Kiez am Berliner Gendarmenmarkt und schwärmt geradezu: Scholz sei ein freundlicher und bescheidener Mensch, den eine starke Disziplin und eine gewisse Dickfelligkeit auszeichne. Scholz nehme Kritik nicht persönlich und lasse auch Anfeindungen an sich abperlen. Da könne er selbst noch einiges lernen.
Beispiel soziale Medien: Der Ton in der politischen Auseinandersetzung sei hier deutlich aggressiver geworden - Rechthaberei, Beschimpfungen und Drohungen statt re-spektvolles Streiten auf der Basis von Fakten. Da falle es mitunter schwer, cool zu bleiben. Euro-Krise, Flüchtlinge, Corona - bei polarisierenden Themen stünden Populisten und Nationalisten immer bereit, artikulierte Unzufriedenheit und das Gefühl des vermeintlichen Ausgegrenztseins zu ins-trumentalisieren. Demokratieverachtung würde dann bis weit in die Mitte der Gesellschaft getragen.
Roth will den Wahlkampf auch dafür nutzen, bewusst für die Grundlagen der Demokratie zu werben. Ob auf Markplätzen, bei einer Fahrradtour durch Dörfer und Kleinstädte seines Wahlkreises Werra-Meißner/Hersfeld-Rotenburg oder auf den sozialen Plattformen, wo er gemeinsam mit einem Arzt Impfskeptiker überzeugen möchte - sein Credo soll ankommen bei den Menschen: Ohne respektvollen Umgang und ohne Kompromissbereitschaft funktioniere Demokratie nicht. »Politik ist nicht Physik, wo eine Reaktion eine Gegenreaktion auslöst. Politik bedeutet Kompromisse schließen.«
Der 50-Jährige weiß, wovon er redet. Nach einer Karriere in der Partei - unter anderem war er SPD-Generalsekretär in Hessen - ist der Politikwissenschaftler mit Diplom-Abschluss der Uni Frankfurt seit 2013 Staatsminister im Außenamt. Zuständig für den Bereich Europäische Union, muss er dickste Bretter bohren: Polen, Ungarn, Westbalkan, Türkei, Ukraine - ohne Respekt und Zuhörenkönnen, ohne die Fähigkeit zu Diplomatie und Geduld sind hier keine Fortschritte zu erzielen.
Diplomatisches Bemühen ist allerdings nicht mit Haltungslosigkeit zu verwechseln. Zur möglichen EU-Erweiterung in Richtung Türkei sagt Roth beispielsweise: »Es ist richtig, dass die Beitrittsgespräche auf Eis liegen. Aber von uns aus werden wir die Tür nicht zumachen.« Es gebe auch Repräsentanten einer anderen Türkei als jener, für die Erdogan stehe. Diese andere Türkei, die sich »emotional« auf die EU zubewege, gelte es zu stärken.
Roth glaubt daran, dass sich Gesellschaften aus sich heraus verändern können, besonders dann, wenn politische Umstände eine Unterstützung von außen für die Reformer ermöglichen. Ein Ereignis dieser Art hat sein politisches Bewusstsein geprägt. Aufgewachsen als Kind einer Bergarbeiterfamilie in Heringen im damaligen nordhessischen Zonenrandgebiet, war an der Grenze der DDR die Welt zu Ende. »Im Schatten der Mauer war das Leben beschränkt.«
Als die Mauer fiel, war er 19 und engagierte sich bei den Jusos. Er erkannte, dass die Öffnung des Eisernen Vorhangs kein rein deutsches Ereignis war, sondern einherging mit europäischen Freiheitsbewegungen, etwa in Polen, Ungarn und der Sowjetunion. Er empfinde heute noch Dankbarkeit gegenüber unseren europäischen Nachbarn, »denen wir Schreckliches angetan haben« - dafür, dass Deutschland wieder ein ungeteiltes und in allen Teilen freies Land sei. Grenzöffnung und Wiedervereinigung hätten ihn zum überzeugten Europäer werden lassen und ihm so den Weg in der Politik gewiesen.
Vom hektischen Politikbetrieb, von der EU und ihren inneren Widersprüchen erholt er sich beim Joggen durch den Berliner Tiergarten und im Urlaub beim Bergwandern mit seinem Mann. Das Klettern im Gebirge - vor Kurzem in Slowenien - helfe, den Kopf frei zu bekommen. Das sei wichtig für Hirn und Herz. »Man muss auf sich aufpassen.« Auch in Wahlkampfzeiten.